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Expressionistische Prosa in Schlaglichtern

  • Walter Fähnders (Hg.): Expressionistische Prosa. (Aisthesis-Studienbuch 1) Bielefeld: Aisthesis 2001. 248 S. Kartoniert. EUR (D) 15,50.
    ISBN: 3-89528-283-9.
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Armin Arnold hat in seinem verdienstvollen Buch Prosa des Expressionismus 1 1972 die erste Inventur einer bis dahin vernachlässigten Gattung vorgenommen und dabei weit über den engen Kanon des Bekannten hinaus die Vielfalt der Autoren und Titel illustriert. Seither ist expressionistische Prosa ein Thema, das zwar im Vergleich zu anderen Gattungen nach wie vor vernachlässigt wurde, aber schon bald einen eigenständigen Forschungszweig bildete, den Wilhelm Krulls Metzlerband Prosa des Expressionismus 2 1984 auf hervorragende Weise dokumentierte. Seit Paul Raabes Handbuch Die Autoren und Bücher des literarischen Expressionismus 3 ist das Quellenmaterial auch derart umfassend erschlossen, dass es zu einer neuen Sicht auf die Erzählprosa zwischen 1910 und 1920 anreizen müsste.

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Expressionismus –
Zur Pragmatik eines Begriffs

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Und doch sind in den letzten zehn Jahren kaum einschlägige Forschungsimpulse zum gesamten Komplex der expressionistischen Prosa zu verzeichnen. 4 Schon vor diesem Hintergrund ist ein Sammelband mit zehn Einzelanalysen zum Thema Expressionistische Prosa zu begrüßen, der den Auftakt zu einer Studienbuch-Reihe bilden soll. Bedient wird freilich der längst bekannte Kanon-Korpus (Benn, Döblin, Ehrenstein, Einstein, Jung und andere). Walter Fähnders, der Herausgeber, entscheidet sich für einen pragmatischen, den aktuellen Forschungsdiskurs referierenden Expressionismusbegriff, der »allenfalls auf einer mittleren Abstraktionsebene als generationstypische ›kulturelle Gesamterscheinung‹« zu fassen sei und »als Reaktion auf Krisenerscheinungen der Moderne und des Umgangs mit ihr« (S. 8 f.) gedeutet werden könne. Nachdrücklich festzuhalten sind die von Fähnders angemahnten Forschungslücken: zum einen die Frage nach den »ästhetischen Besonderheiten expressionistischer Programmprosa« (S. 13), beispielsweise nach der hybriden, die »Gattungsgrenzen« sprengenden Struktur der Manifeste und der »hymnischen Aufrufe des messianisch-aktivistischen Expressionismus« (ebd.), zum anderen das Skandalon der immer noch fehlenden Gesamtdarstellung expressionistischer Romanliteratur, zu der »bisher noch keine eigene Monographie« (S. 19) vorliegt.

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Prinzip Exemplarität:
Einzelanalysen

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Auch das Studienbuch schließt diese Lücken nicht, sondern bedient den »Höhenkamm expressionistischer Erzählkunst« (S. 18), stellt also das Bekannte in den Mittelpunkt. Unter den zehn Einzelstudien ragen einige deutlich hervor. So gelingt es Sabina Becker auf prägnante Weise, Döblins Positionierung innerhalb der expressionistischen Bewegung genauer zu bestimmen (S. 21–44) und mit der Formel »›Döblinismus‹« (S. 31) die Abgrenzung Döblinscher Erzähltheorien sowohl von Marinetti und vom Futurismus als auch vom ›Sturm‹-Kreis materialreich zu belegen:

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Daß Döblin seit 1910 über nahezu zwanzig Jahre hinweg an einer Poetologie des Romans [...] arbeitet und die bedeutendste Romantheorie der zehner und zwanziger Jahre, wenn nicht sogar des 20. Jahrhunderts vorlegt – sie wird in Berlin Alexanderplatz eine gelungene Umsetzung erfahren –, verweist auf die Problematik einer uneingeschränkten Zuordnung dieses Autors zum Expressionismus. (S. 24 f.)
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Albert Ehrensteins wohl bekannteste Novelle Tubutsch liest Jörg Drews neu, indem er die immer wieder in der Forschung hervorgehobenen Themenspektren wie Langeweile, Melancholie, Depression, Lebensekel und Leere in der kontrastiven Brechung zu einem den Sprachduktus der Erzählung kennzeichnenden Verfahren deutet, zu Witz und Kalauer: »Kalauer und Witze im Zeitalter der vollendeten Sinnleere, sie sind die verkommene Form des Esprit. Unter diesem Aspekt muss wohl auch das permanente, zwanghafte Witzeln Tubutschs gesehen werden.« (S. 50) Damit löst Drews den Text aus seiner Paradigmenfunktion für einen existenzialistisch interpretierten Expressionismus:

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Vielleicht ist die stärkste Leistung von Ehrensteins Tubutsch gerade diese haltlos witzelnde Selbstdestruktivität, [...], mit der Karl Tubutsch sich jeden Trost, jede Krücke, jede Stütze, den Grund zu Zuversicht aus der Hand schlägt und die innere Ödnis, in der er lebt, noch nicht einmal ästhetisch interessant werden läßt, sondern den Leser geradezu wehrlos macht gegenüber solcher Öde, die man noch nicht einmal rechtfertigen kann als Parodie eines Ehrenstein parfümiert erscheinenden Hofmannsthalschen ›Frühgereift und zart und traurig...‹, wenngleich ein Element der spöttischen Übersteigerung anämischer Literatursensibilitäten in Ehrensteins Text unverkennbar ist. (S. 57)
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Die Mischung von textorientierten und systematisch strukturierten Einzelanalysen ist für das vorliegende Studienbuch bestimmend. So vermitteln Beiträge über Einsteins Bebuquin, Benns Rönne-Prosa, Edschmids Novellen und andere Autoren ein informatives Bild über die Spannweite expressionistischer Prosa und bieten Studierenden einen guten Einstieg in das große Thema. Jede Auswahl indes hat ihre Stärken und ihre Grenzen. Es ist bedauerlich, dass kein einziger Beitrag den medialen Kontext expressionistischer Prosa gründlicher untersucht, beispielsweise Kurt Wolffs kanonbildende Reihe »Der jüngste Tag« oder die Rolle der Prosa im Gattungs- und Textsortenmix der Zeitschriften. Eine Studie zum Konnex von Erzähl- und Filmtechnik hätte Möglichkeiten intermedialer Perspektiven eröffnet (während beispielsweise Edschmid entbehrlich gewesen wäre – wo schon Heym, Trakl, Sternheim, Lichtenstein, Goll, Sack und viele andere fehlen).

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Unter den systematischen Ansätzen sind Baßlers Überlegungen zum Stichwort »Absolute Prosa« (S. 59–78) und der grundlegende Essay »Geschlecht und Psyche in der Zeit des Expressionismus« (S. 115–146) von Christine Kanz hervorzuheben. Baßler wählt einen kleinen Prosatext aus der Aktion zum Ausgangspunkt, die Ekstase der Sehnsucht, einen Text aus der Feder des völlig unbekannten, 1915 gefallenen Redakteurs der Zeitschrift Neue Jugend, Rudolf Börsch. Baßler rekonstruiert »die neuartige Textur« (S. 61) dieser Kurzprosa, indem er die Funktion des erzählenden Ichs untersucht und »den Umschlag des Ich-Stils in ein nicht mehr auf psychische Subjekte rückzurechnendes Verfahren« (S. 65) als »Verselbständigung des Textverfahrens gegenüber nicht-textuellen Inhalten« (ebd.) bestimmt. Von hier aus nimmt er die in den 1960er Jahren bereits geführte Diskussion um die ›absolute Prosa‹ wieder auf, ohne sich auf den Begriff selbst festzulegen, den er für einen »jener wenig glücklichen, aber nicht aus der Welt zu bringenden literaturwissenschaftlichen Begriffe« hält, »in denen formale Textbefunde, Programmatiken sowie politische und philosophische Besetzungen ein kaum entwirrbares Konglomerat bilden.« (S. 76) Baßlers Textbeispiel zeigt, dass auch jenseits der im Studienbuch favorisierten Kanonwerke grundlegende Fragen expressionistischer Prosa entwickelt werden können. Der geglückte Rückgriff auf die Archive ließe sich im vorliegenden Falle sogar noch erweitern, wenn mit kulturwissenschaftlichem Interesse das Jugend-Syndrom der Ekstase der Sehnsucht noch näher untersucht und vor allem der Konnex zwischen Expressionismus und Jugendbewegung stärker einbezogen worden wäre.

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Kanz’ kleine Studie zu »Geschlecht und Psyche« gehört zu den forschungsinnovativsten Beiträgen des gesamten Buches. Zu Recht problematisiert sie »die Erfindung des Labels ›weiblicher Expressionismus‹«, das nur eine »Fortsetzung der Ausgrenzung aus dem traditionellen Kanon« (S. 119) wäre, und verweist auf Autorinnen wie Henriette Hardenberg, Marie Holzer, Berta Lask, Frida Bettinger und Paula Ludwig. Ausführlicher setzt sich Kanz mit Franziska Gräfin zu Reventlow (die sie in den kulturellen Kontext des Expressionismus stellt) und Emmy (Ball-)Henning auseinander, deren »Weiblichkeitskonzeptionen« (S. 123–131) sie auf der Basis aktueller Gender-Theorien mosaikartig aus einer Fülle von Quellen entfaltet. Der Aufsatz erhellt, indem er beispielsweise eine für den frühen Expressionismus so wichtige Bezugsfigur wie den Mutterrechtler und Sexualforscher Otto Gross einbezieht (S. 133 ff.), einen wesentlichen Teil des kulturellen Horizonts expressionistischer Literatur.

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... aber kein Studienbuch

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Fähnders’ Sammelband Expressionistische Prosa ist, zusammengefasst, eine Ermunterung, sich einem noch längst nicht ausgeforschten und ausdiskutierten Thema wieder zuzuwenden. Ein Studienbuch allerdings ist der Band nur mit Einschränkungen. Dazu bietet er vor allem dem Anfänger viel zu wenig Grundlagen: kaum Begriffsvermittlungen, zu wenig Einführungsstoff, kaum echte Studienhilfen, nicht einmal ein Namen-, Werk- und Begriffsregister. Dafür sind Fähnders’ kommentierte Auswahlbibliographie (S. 235–245) und seine Einleitung (S. 7–19) kein Ersatz. Dem Verlag ist dringend zu raten, wenn er die Reihe fortsetzen will, dieser auch die Mindestausstattung eines Studienbuchs zukommen zu lassen.



Anmerkungen

Armin Arnold: Prosa des Expressionismus. Herkunft, Analyse, Inventar. Stuttgart u.a. 1972.   zurück
Wilhelm Krull: Prosa des Expressionismus (Sammlung Metzler 210) Stuttgart 1984.   zurück
Paul Raabe: Die Autoren und Bücher des literarischen Expressionismus. Ein bio-bibliographisches Handbuch. 2. Aufl. Stuttgart 1992.   zurück
Ausnahmen bilden Arbeiten wie Heidemarie Oehm: Subjektivität und Gattungsform im Expressionismus. München 1993; ferner Moritz Baßler: Die Entdeckung der Textur. Unverständlichkeit in der Kurzprosa der emphatischen Moderne 1910–1916. Tübingen 1994.   zurück